Der Fremdsprachenunterricht in der Waldorfschule

Der Fremdsprachenunterricht soll, wie alle anderen Fächer im Lehrplan der Waldorfschule, zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen beitragen.

Rudolf Steiner äußert sich zum Erlernen der (Mutter)sprache wie folgt: „…der Mensch“ wird „nicht nur nach Geist und Seele, sondern nach Geist, Seele und Körper hingenommen…von der Art und Weise, wie sich seine Muttersprache in ihm auslebt. Aber wir müssen uns durchaus klar darüber sein, dass die verschiedenen Sprachen in der Welt in ganz verschiedener Art den Menschen durchdringen und das Menschliche offenbaren. Das macht eben durchaus nötig – wenn wir dem Menschen heute eine rein menschliche, nicht eine spezialisiert menschliche, volkstümliche Bildung und Erziehung geben wollen, – dass wir tatsächlich in Bezug auf das Sprachliche dasjenige, was aus dem Sprachgenius heraus von der einen Sprache her über die menschliche Natur kommt, durch eine andere Sprache ausgleichen.“ (GA Nr. 307, S. 199).

Aus diesem Grund werden an den Waldorfschulen ab der ersten Klasse zwei Fremdsprachen unterrichtet, zwei Fremdsprachen, die sich völlig voneinander unterscheiden, um Einseitigkeiten der eigenen Sprache zu korrigieren und gleichzeitig besonders starke Elemente einer Fremdsprache durch eine zweite in einen harmonischen Zusammenhang zu bringen.

Zudem gehört als weiteres Ziel des Erlernens zweier oder mehrerer Fremdsprachen an Waldorschulen dazu, durch den Fremdsprachenunterricht eine positive Haltung gegenüber Menschen anderer Kulturen zu unterstützen und zu vertiefen, das Verständnis zwischen den Menschen zu fördern – in unserer globalisierten Welt ein ganz entscheidender Faktor für ein friedliches Miteinander. Indem die SchülerInnen lernen, verschiedene fremde Sprachen zu verstehen und zu sprechen, sich mit der jeweiligen Kultur, Geschichte, Literatur aktiv auseinanderzusetzen, eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, eine Vielzahl sozialer und kultureller Kompetenzen zu entwickeln. Gleichzeitig bietet die fruchtbare Auseinandersetzung mit einer anderen, fremden Sprache den SchülerInnen eine neue Sichtweise auf die eigene Sprache, Kultur und Mentalität und erweitert letztendlich den Horizont der Heranwachsenden.

In unserer Schule unterrichten wir von der ersten Klasse an die beiden Fremdsprachen Englisch und Russisch und ermöglichen den SchülerInnen ab Schuljahr 2020/21 die Wahl, sich am Ende er 8. Klasse, zum Eintritt in die Oberstufe, für das Weiterführen von Russisch oder für einen Neubeginn in der französischen Sprache zu entscheiden. Sowohl Russisch als auch Französisch werden dann bis zum mündlichen Prüfungsniveau (Abitur) zum Ende der Schulzeit an unserer Schule als Zweitsprache weitergetragen.

Warum lernen unsere Schüler seit Beginn ihrer Schulzeit neben Englisch auch Russisch?
Russisch ist eine junge Sprache, entstanden mit der Christianisierung des Ostens vor ca. 1000 Jahren. Der Dichter A. S. Puschkin hat im 19. Jh. der (kyrillischen) Schrift die heutige Bedeutung gegeben. Die russische Sprache ist voller Energie und Lebenskraft. Während das Deutsche stark durch Substantive geprägt ist und das Englische durch Verben, zeugt das Zugeneigt sein der russischen Sprache zu den Adjektiven von dem stark gefühlsmäßigen Verhältnis des Menschen zur Welt.

Das Russische benutzt besonders die Vokale A, O und U und verfügt deshalb über eine wesentlich musikalischere Komponente als das Deutsche, welches im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte viel A, O und U zugunsten von E und I verloren hat.

Das Russische verfügt über 6 Fälle mit unterschiedlichen Deklinationsklassen; dazu kommen noch die unterschiedlichen Deklinationen für Substantive, Adjektive, Pronomen und Zahlwörter. All diese Fülle von verschiedenen Endungen und Formen schult im Rahmen des Grammatiklernens bei den SchülerInnen das analytische Denken und schafft zudem eine gute Basis für das Erlernen weiterer Fremdsprachen.

Außerdem stellt das Lernen des kyrillischen Alphabets eine weitere Herausforderung an die SchülerInnen dar und fordert ihren Lernwillen heraus.

Russisch fördert des Weiteren die emotionale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Die harten und weichen Konsonanten und die offenen Vokale geben der russischen Sprache einen melodischen Charakter und lassen beim chorischen Sprechen, gemeinsamen Singen und Ausführen der rhythmisch-musischen Elemente die Seele des Kindes mitschwingen. Die Schülerinnen und Schüler, welche zu Beginn ihres Schullebens noch ganz in der Nachahmung sind, schlüpfen vollkommen in die Sprache hinein, erfassen intuitiv ihre Gemütsart und machen alles mit, was ihre Lehrperson ihnen vormacht. Dazu gehören Gestik, Körpersprache, Mimik und Tonfall und auch die sog. kinesic interaction, sprachspezifische Bewegungen und körperliche Reaktionen, die sich – oft unmerklich – zwischen Sprecher und Hörer abspielen.

Die russische Sprache schult das Gehör insbesondere auch im Hinblick auf nuanciertes Hören, was der französische Audiologe A. Tomatis in seinen Forschungsarbeiten belegte. In der Kindheit sind die Sprachorgane und das Gehör in ungeformtem, plastizierbarem Zustand. Erfahrungen in der Praxis, sowie wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die Kinder bis zum 12. Lebensjahr die einzigartigen und besonderen Laute einer Fremdsprache exakt aufnehmen und aussprechen können. So wird durch genaues Hinhören das Gehör ausgebildet und durch das Ringen mit den fremden Lauten (besonders in der, dem Deutschen nicht verwandten Sprache Russisch) die Sprachorgane entwickelt. Das Erlernen fremder Sprachen erfordert also ein genaues Hinhören der Kinder, zumal Kinder in ihrem ausgeprägten Bestreben, neues lernen zu wollen, bemüht sind, die „ungewohnten, fremden“ Laute richtig auszusprechen. Man kann sich zudem vorstellen, dass der Mensch durch den Atmungsprozess den Luftstrom der Umgebung aufnimmt, um diesen dann mit Hilfe seiner Sprachorgane zu Lauten, Worten und Sätzen umzuformen und in Form von „Sprache“ an seine Umgebung abzugeben. Somit hat Sprache neben dem sozialen und kommunikativen Aspekt sicherlich auch eine Wirkung auf die Organbildung des Menschen.

Das Erlernen der russischen Sprache schafft daneben eine Brücke zur slawischen Kultur und zum slawischen Sprachraum. In den höheren Klassen sind somit Landeskunde und Geschichte, sowie bedeutende Werke der großen russischen Schriftsteller wichtige Unterrichtsinhalte. All dies soll den Schülern helfen, sich für die Mentalität und Kultur Osteuropas zu öffnen, zumal seit der politischen Wende die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und den anderen Staaten der früheren Sowjetunion zugenommen haben und nunmehr im Wirtschafts- und IT-Bereich verstärkt auch Fachkräfte gesucht werden, die der russischen Sprache mächtig sind.

Es sei hier noch erwähnt, dass die Zahl der Schulen, die Russisch als Fremdsprache anbieten, in Baden-Württemberg in den letzten Jahren beständig angestiegen ist.

Wir unterrichten also an der Waldorfschule Silberwald Englisch und Russisch ab der 1. Klasse (und Französisch ab der 9. Klasse), weil wir es als wesentlich ansehen, dass unsere Schüler während ihres Schullebens mit (mindestens) zwei Sprachen in Berührung kommen, die die Seele auf ganz unterschiedliche Weise ansprechen.

Dr. Maja Pelic-Sabo
für das Sprachlehrerkollegium der Waldorfschule Silberwald
Stand: Oktober 2020